Die Versöhnung mit dem Schatten

Jeder kennt es: Das Yin und Yang Symbol, chinesisch Taijitu. Wenn wir es aufmerksam betrachten, sehen wir, dass es einen hellen und einen dunklen Bereich gibt. Dieses Symbol des Daoismus steht für Harmonie, Balance, für ein inneres Gleichgewicht, weil Yin und Yang, Schatten und Licht ausgeglichen sind.

Schattenbetrachtung im Christentum und im Daoismus

Die christliche Tradition geht nicht sehr clever mit dem Schatten um. Das Böse wird in einen Teufel projiziert, den es zu bekämpfen gilt. Meist werden so Menschen zu Sündenböcken degradiert und entmenschlicht. Später werden sie verfolgt und hingerichtet. Das gab und gibt es zu allen Zeiten. Ob Juden, „Terroristen“, Farbige, Schwule, heilkundige Frauen. Die Liste ist endlos. Schauen wir bloß in unsere Geschichte …

Der Kampf gegen „etwas“ da draußen kann nicht die Lösung sein. Wie oft hat man gerade das heraufbeschworen, was man intensiv bekämpft hat? Druck erzeugt immer Gegendruck, das ist eine alte, daoistische Weisheit.

Auch unserer Psyche funktioniert so: Wenn wir etwas in uns loshaben wollen, ohne es anzuschauen, es sogar rigoros bekämpfen, dann wird das Problem meist größer, oder es wandert in unser Unterbewusstes ab. Es wird zum Schatten.

Im Daoismus findet sich ein viel weiserer Umgang mit dem Schatten, mit dem Dunklen Yin. Es geht nämlich darum beide Seiten, Licht und Dunkelheit zu versöhnen. Erst eine solche Einstellung macht den Menschen heil, weil er so seine Ganzheit erfährt.

Das Böse wird so zur Kraft, die zwar Böses will, doch dabei Gutes schafft, aber nur wenn der Mensch den Mut aufbringt, das Dunkle in sich zu konfrontieren.

Ein besonderer Psychiater

Das Schattenkonzept, wie wir es heute kennen, stammt von Carl Gustav Jung (1875 – 1961). Er begann 1913, sich neben seiner psychotherapeutischen Praxis verstärkt seinem Unbewussten, seinen Träumen und Phantasien zu widmen, und rekapitulierte seine Kindheit. Träume und Phantasien hielt er als Notizen und Skizzen in „Schwarzen Büchern“ fest. Diese bildeten die Grundlagen seines weltbekannten „Roten Buches“, an dem er bis 1930 arbeitete.

Der Schattensack

Alles, was wir an uns stark ablehnen und verurteilen, verurteilen wir meist auch an anderen. Das was wir auszusetzen haben, kann uns auf eigene Schattenanteile hinweisen. Der amerikanische Schriftsteller Robert Bly (*1926) bezeichnet den Schatten als Sack, den wir hinter uns herziehen. Bis zur Adoleszenz packen wir alles in ihn hinein, was wir in unserem Alltagsbewusstsein nicht aushalten können. Dann, in der zweiten Hälfte des Lebens ist es unsere Aufgabe unsere „Leichen im Keller“ aufzuspüren und zu konfrontieren, um sie letzendes im Licht zu erlösen, das heißt in unsere Persönlichkeit zu integrieren.

Schattenprojektionen

Nach Carl Gustav Jung projizieren wir größtenteils unser Innenleben in das Äußere. Alles, was uns an anderen auffällt, ist ein Hinweis für das, was in uns ist. Überall da, wo Ablehnung vorherrscht, kannst du dir sicher sein, dass dort ein Schattenthema in der Gesellschaft verborgen ist.

Der Schatten – eine große Kraft

Für die eigene Spiritualität ist der Schatten jedoch eine Schatzkammer. Denn wenn die Schattenanteile geliebt und später integriert werden, dann offenbart sich die Ganzheit des eigenen Seins. Und überall wo der Mensch aus seiner Fragmentierung, aus seiner Abspaltung und Trennung in die Einheit kommt, findet wahre Heilung seines Wesens, seiner Persönlichkeit statt. Jung dazu:

Einem Menschen seinen Schatten gegenüberstellen heißt, ihm auch sein Licht zeigen … Er weiß, dass Dunkel und hell die Welt ausmachen … wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahrnimmt sieht sich von zwei Seiten, und kommt damit in die Mitte.[1] 

Ganzheit

Wer ganz ist, hört auf zu projizieren, der erkennt im Außen sein Innen. Wer ganz ist, muss nicht mehr über andere urteilen und findet Frieden. So ist die Schattenarbeit ein Geschenk, die uns lebendiger und mitfühlender macht.

Ich möchte nun zu den praktischen Methoden kommen, den Schatten aufzuspüren und ihn kommunikativ greifbar zu machen. Vielleicht denkst du zwar, dass dieses Schattenkonzept sinnvoll und logisch ist, aber du findest keinen Zugang zu deinem Schatten.

Nun, drei Methoden mit dem Schatten therapeutisch zu arbeiten.

  1. Schattentanz

Bei dem Schattentanz verbindest du dich mit deiner wilden, ungezähmten Seite. Finde passende Musik, wie zum Beispiel das Trommeln der nordamerikanischen Natives. Die Methode orientiert sich an den Tänzen der Schamanen, die mit der Welt der Spirits durch ihr Tanzen in Berührung kommen.

Auch du kannst dich in eine Trance tanzen. Stelle dir dabei vor, wie du von guten Freunden umgeben bist, in deren Mitte du tanzt. Bewege deinen Körper so, wie du es fühlst. Beobachte dich selbst und lass dich in den Tanz fallen. Ein anderes Bild: Tanze wie Rumpelstilzchen im gleichnamigen Märchen um das Feuer. Nach diesem Schattentanz wirst du dich ganzer, wohler, gesünder fühlen, denn du hast deinen Schatten im Tanz durch deinen Körper ausgedrückt.  

  1. Schattengespräch

Bei dem Schattengespräch steht – wie der Name vermuten lässt –, das Gespräch im Mittelpunkt. Gehe dazu in die Natur und genieße die Landschaft. Verbinde dich mit deinem Schatten und versuche in einen Dialog mit ihm zu treten.

Du kontaktierst den Schatten, indem du ihn ansprichst: „Ich grüße dich, Schatten! Was hast du mir zu sagen?“

Werde zu einem Schauspieler, tausche die Rolle und sprich wie der Schatten wohl zu dir sprechen würde. Du kannst dir dabei einige Antagonisten der Literatur zunutze machen: Spiele Mephisto aus Goethes Faust, Dracula oder Darth Vader.

Ändere deine Stimme, deine Haltung, so wie es die Rolle von dir verlangt. Du kannst deine Stimme zu einem leisen Flüstern verändern.

Dann kann sich möglicherweise ein Dialog ergeben, der bei mir so klingt:

Schatten: „Warum quälst du mich so sehr?“

Ich: „Was meinst du damit? Ich quäle dich?“

Schatten: „Warum kannst du mich nicht lieben?“

Zunächst betroffenes Schweigen, dann: „Ich weiß es nicht, Schatten. Ich weiß, dass ich dich lieben müsste, aber ich kann es nicht! Denn du machst mir Angst.“

Schatten: „Siehst du. Deshalb bin ich im Schmerz. Deshalb quälst du mich. Du quälst mich, weil du dich selbst quälst. Du hasst mich, weil du dich selbst hasst.“

Ich: „Da ist viel Wahrheit dran. Aber was kann ich tun, dich zu lieben. Und schließlich dann auch mich zu lieben?“

Schatten: „Es reicht aus, wenn du mich fühlst. Und wenn du mich annimmst. Spürst du jetzt, wie ein warmer Strom dich durchfließt? Denn diese Kraft – meine Kraft – die in dir abgespalten war, kehrt nun in dein Wesen zurück. Wie Wasser zurück ins Meer fließt.“

Ich: „Es tut so gut, Schatten, dich anzunehmen, dich zu spüren.“

Schatten: „Siehst du jetzt, dass ich nie dein Feind war? Ich bin dein Verbündeter. Aber meine Kraft, die du jetzt spürst, kannst du nur nutzen, wenn du dich mit mir versöhnst. Dann wirst du heil und ganz und erst dann ein wirklich gesunder Mensch!“

Ich: „Schatten, ich danke dir. Ich erkenne, dass du mir nie feindselig gestimmt warst.“

Schatten: „Du hast recht gesprochen. Eines möchte ich dir noch sagen: Wenn du auf einem spirituellen Weg bist, dann geht es nicht (nur) darum ins Licht zu kommen, sondern es geht besonders darum, deinen Schatten anzunehmen. Das ist wahrhaftige Spiritualität und nicht nur lauwarme Wellness-Spiritualität.“

Ich: „Danke Schatten!“

Schatten: „Ich danke dir.“

Siehst du, wie kreativ du sein kannst? Wenn du Lust hast, zeichne diese Gespräche mit deinem Handy oder mit einem Diktaphon auf. Du wirst überrascht sein, welche Weisheit in dir und deinem Schatten stecken.

Nach deinem Spaziergang kannst du die Dialoge schriftlich in einem Schattentagebuch festhalten. Gebe dir genügend Zeit, denn du wirst erfahren, wie du immer fähiger wirst, deine Schattenanteile zum Sprechen zu bringen. Du wirst regelrecht zu einem Kanal, durch den deine inneren, persönlichen Anteile mit dir kommunizieren. Je mehr du den Schatten aufspürst, desto intensiver ist dein Heilungsprozess.

  1. Dynamische Meditation

Die dynamische Meditation vom indischen Mystiker Osho (1954 – 1990) ist ein wahres Geschenk und ähnelt dem Schattentanz, wie zuvor beschrieben. In der mit Musik begleiteten dynamischen Bewegungsmeditation, kann der Meditierende wahrlich den Schatten heilen. Man muss wirklich nichts anderes tun, als sich zu der Musik zu bewegen. Die Meditation ist in fünf Phasen aufgeteilt und entfaltet in der letzten Phase der Stille ihre ganze Kraft.

Wie der Schatten heilen kann

Du merkst an den Methoden, dass es immer darum geht, in einen Dialog mit dem Schatten zu treten, bzw. ihn auszudrücken. Denn auch bei Menschen, mit denen du Probleme hast, ist nichts heilsamer als ein klärendes Gespräch, in dem du davon erzählst, wie sehr dich etwas verletzt hat. Liebe, Akzeptanz und Empathie heilen den Schatten.

Werde zum Teil der Lösung

Abschließend nochmals zum Yin und Yang Symbol. Es zeigt wie Anfangs erwähnt, ein harmonisches Gleichgewicht, aus Schatten und Licht.

Wenn ich mich selbst annehmen kann, dann lebe ich in Harmonie und innerer Ausgeglichenheit. Vergiss dabei nicht: Der Schatten ist von Natur aus Licht und er wird zum Licht, sobald er erlöst ist. Das zeigt der weiße Punkt im schwarzen Feld Yin.

Carl Gustav Jungs Frage trifft also voll ins Schwarze, wenn er fragt: „Willst du gut oder ganz sein?“

Willst du deinen Schatten verleugnen und dich so ein Leben lang fragen, was nicht mit dir stimmt? Oder willst du gesünder und heilsamer leben, weil du das Böse in dir mutig konfrontierst?

Werde zu einem heilen Menschen, der sein Innerstes kennt, anschaut und lieben lernt. So trägst du in dieser Welt zum Teil der Lösung bei, statt das Problem im „Außen“ immer weiter anzufeuern und gewaltsam zu bekämpfen. Das hat bisher nur zu Krieg, Völkermord und Zerstörung geführt. Eine bessere Welt, die wir uns alle Wünschen, hat ihren Ursprung in uns.

Lass Dich inspirieren!

Quellen:

[1] C.G. Jung nach Dahlke Heilkundezentrum – Heilpraktikerpraxis für Psychotherapie, ganzheitliche Psychosomatik und alternative Heilweisen (dahlke-heilkundezentrum.de)