Ein Gott, der immer da ist?

Im Artikel Der Weg mit Gott – ein Schulungsweg sprach ich vom Ziel des Menschen, das für mich darin besteht, eine lebendige Beziehung zu Gott alltäglich zu suchen und allmählich aufzubauen.

In Auf Sonne folgt Regen zeigte ich, wie schmerzhaft es ist, wenn Gott als fern wahrgenommen wird, wenn wir meinen, dass Gott uns verlassen hat. Ich sprach auch davon, dass die Beziehung zu Gott der Beziehung zu geliebten Menschen sehr ähnelt. Kein Mensch in unserem Leben ist ständig bei uns, nicht einmal unsere Partner oder Eltern. Also auch Gott nicht, oder etwa doch?

Ich glaube, dass Gott uns nah und fern ist, um uns liebevoll zu erziehen. Es geht dabei immer um Reife, um ein höheres Level, das der Mensch durch den Schmerz der scheinbaren göttlichen Abwesenheit lernen soll.

Johannes vom Kreuz (1542 – 1591) beschreibt das so:

Wenn sich ein Mensch entschlossen dem Dienst Gottes zuwendet, zieht ihn Gott für gewöhnlich allmählich im Geist auf und verwöhnt ihn, wie es eine liebevolle Mutter mit einem zarten Kind macht. Sie wärmt es an ihrer warmen Brust, zieht es mit köstlicher Milch und leichten, süßen Speisen auf, trägt es auf dem Arm und verwöhnt es. In dem Maße aber, wie es größer wird, hört die Mutter nach und nach auf, es zu verwöhnen, verbirgt ihre zarte Liebe […]. Sie lässt es von ihren Armen herab und stellte es auf die eigenen Füße. Es soll die Eigenheiten eines Kindes verlieren und sich größeren, wesentlicheren Dingen hingeben.[1]

Johannes vom Kreuz spricht also von einem Entwicklungsprozess, den der/die Glaubende durchlaufen muss. Der Mensch soll dabei lernen, „auf eigenen Füßen“ zu stehen. Nicht mehr nach Gott zu gieren, sondern demütig zu akzeptieren, dass es Gottes Entscheidung bleibt, ob er uns nah oder fern ist.

Die immerwährende Beziehung

Doch ich muss einen wichtigen Aspekt zum bisher Gesagten hinzufügen. Die Beziehung zu Gott muss nicht unbedingt der einer menschlichen Beziehung gleichen. Was meine ich damit?

Es kann definitiv eine Sehnsucht in uns sein, Gott immerwährend zu erfahren. Doch ist das möglich? Ist Gott ständig erfahrbar, egal in welchem Lebensmoment? Können wir uns aus dem emotionalen Ping-Pong-Spiel befreien, das ein naher bzw. ferner Gott in uns auslöst? Mittlerweile glaube ich: Ja!

Es hängt besonders von uns ab

Wer diesen Zustand anstrebt, der muss einige Eigenschaften verwirklicht haben. Denn ob es möglich ist, Gott dauerhaft zu fühlen, hängt natürlich zum einen von göttlicher Gnade ab, aber auch sehr stark von unserer Glaubensreife und somit von uns selbst.

Loslassen, Gott suchen und nachspüren

In erster Linie müssen wir lernen, loszulassen. Nur wer das kann, kann auch Freiwerden von der Gier nach Gott, nach immer neueren Erfahrungen und Visionen. Ich lasse also los, und schaue, was ist, was sich zeigen will. Ich sage: Gott, es liegt bei Dir, ob Du nah oder ob Du fern sein willst.

Wie oft haben wir große Erwartungen, wenn wir ins Gebet mit Gott gehen. Doch die Erwartungen loszulassen ist eine wirkliche Kunst, die benötigt wird, wenn wir Gott wahrhaft erfahren wollen.

Die ständige und alltägliche Gottsuche ist eine Voraussetzung für den vertieften Glauben. Aber ich muss lernen, meinen eigenen, übertriebenen Willen zu mindern. Nur wenn der/die Betende innerlich leer wird, kann Gott die Leere neu befüllen.

Dahinter

Wer gelernt hat loszulassen und zu spüren was ist, der wird Gott unmittelbar erleben, denn der personale Gott erstrahlt hinter den Gedanken, hinter den Gefühlen, hinter dem eigenen Ich. Meister Eckhart spricht vom „Gottesgrund“, der in jedem Menschen zu finden ist.

Ich bin, der ich bin da

Wenn wir still geworden sind, dann erleben wir hinter unseren Gedanken eine Art Bewusstseinsfeld. Wir können eine Präsenz wahrnehmen, die ganz zärtlich erstrahlt. Jeder/Jede Meditierende kann erfahren, dass wir zwar nicht genau wissen, was wir sind, aber wir können sagen, dass wir sind.

Wir sind also als ein „Ich bin“ erfahrbar. Interessant, dass der alttestamentliche Name für Gott Jahwe ist, also der „Ich bin, der ich bin da.“

Es ist nicht möglich diese Präsenz, dieses Feld, das ich Gott nennen möchte, zu verfehlen. Gott ist uns demnach näher als unser eigener Atem, und das zu wirklich jeder Zeit. Also ist Gott immerwährend erfahrbar, denn das, was ich bin, ist immer da.

Ist Gott etwa der innere Zeuge, der alles mit uns gemeinsam wahrnimmt, ohne Widerstand, ohne Filter? Der Mensch, der Gott so als immerwährend erfährt, ist wirklich bedingungslos glücklich. Und suchen wir nicht alle dauerhaftes Glück? Und wie frustrierend ist es oft, wenn sich unsere materiellen Wünsche erfüllt haben? Nach wenigen Tagen ist alles öde beim Alten …

Gott zu Lebzeiten erfahren

In der christlichen Theologie heißt es, dass wir erst im Tod Gott von Angesicht zu Angesicht schauen werden. Das kann ich gut akzeptieren. Denn erst im Tod wird der Schleier vollkommen gelüftet.

Aber ich glaube auch daran, dass die immerwährende Gotteserfahrung, wie oben beschrieben, auch in diesem Leben als Mensch möglich ist und uns wahrhaft glücklich macht.

Klein anfangen

Die Erfahrung des immerwährenden Gottes klingt sehr idealistisch und die Messlatte das Beschriebene zu erreichen, liegt sehr weit oben. Das hat Benedikt von Nursia (um 480 – 547) erkannt, wenn er in seiner Regel schreibt:

Es [ist wichtig], nichts zu übertreiben, keine unerfüllbaren Forderungen zu stellen, damit schwache Brüder nicht verschreckt davonlaufen. [Es ist wichtig], dass der Abt auf die Schwächen seiner Mönche Rücksicht nimmt und sich den Bedürfnissen der Einzelnen anpasst.[2]

Es gibt im Glauben verschiedene Ebenen und die immerwährende Beziehung zu Gott ist mit Sicherheit ein fortgeschrittenes Konzept. Wir dürfen auch nicht vergessen: Der Weg mit Gott erfordert einen langen Atem.

Der höchste Gipfel

Bei dieser Idee einer immerwährenden Gottesbeziehung bin ich stark vom Buddhismus und Hinduismus inspiriert. Beide Religionen kennen diese Art von hohem Ideal, das sich jeder Gläubige zu erreichen vorgenommen hat.

Der Hinduist strebt nach wahrer Glückseligkeit, ohne Grund, ohne Bedingung: bedingungsloses Glück: Das Sat-Chit-Ananda. Ist sich der Mensch seines wahren Seins (sat) bewusst (chit), so fühlt er jene Glückseligkeit (ananda).

Ist also meine Sehnsucht, einen personalen Gott immerwährend zu erfahren, eigentlich die Sehnsucht nach dem Sat-Chit-Ananda, wie es der Hinduismus lehrt? Auf jeden Fall spannend, denn im Hinduismus spricht man auch von immerwährender Glückseligkeit (eternal bliss).

Christ und erleuchtet?

Die Lehren von der Erleuchtung als eine tiefgreifende Transformation des Menschen, vermisse ich sehr im Christentum. Doch auch wir Christen können nach einem hohen Ideal streben, nach einer Erfahrung, die uns aus unserer inneren Zerrissenheit und Fragmentierung erlöst.

Ich kann also nach dem höchsten Gipfel menschlichen Potenzials suchen, und trotzdem Christ bleiben. Und die Erleuchtung als Christ bedeutet für mich: die immerwährende Gottesbeziehung. Also Gott ständig zu erfahren. Denn Gott ständig nah zu sein, ist wahrlich unser Glück!

Mögen wir alle die immense Freude einer immerwährenden Beziehung zu Gott erfahren!

Quellen:

[1] Kreuz, Vom Johannes: Sämtliche Werke. Vollständige Neuübertragung: Die Dunkle Nacht: Vollständige Neuübersetzung. Sämtliche Werke Band 1 (HERDER Spektrum), 11., Freiburg im Breisgau, Deutschland: Verlag Herder GmbH, 2013, S. 32-33.

[2] Ruppert, Fidelis: Geistlich kämpfen lernen: Benediktinische Lebenskunst für den Alltag, 3. Aufl., Münsterschwarzach, Deutschland: Vier-Türme-Verlag, 2018, S. 33.

Literaturverzeichnis:

Kreuz, Vom Johannes: Sämtliche Werke. Vollständige Neuübertragung: Die Dunkle Nacht: Vollständige Neuübersetzung. Sämtliche Werke Band 1 (HERDER Spektrum), 11., Freiburg im Breisgau, Deutschland: Verlag Herder GmbH, 2013.

Ruppert, Fidelis: Geistlich kämpfen lernen: Benediktinische Lebenskunst für den Alltag, 3. Aufl., Münsterschwarzach, Deutschland: Vier-Türme-Verlag, 2018.