In der Gegenwart Gottes leben
Auf unserem spirituellen Weg kann es nützlich sein, sich immer wieder zu fragen, was das geistliche Ziel ist. Denn, wenn das Ziel klar ist, wird auch der Weg klar. Der/die Gläubige weiß dann wieder: Warum beten? Warum Andachten, Nachtwachen und Kontemplation? Es ist ja nicht so, dass der/die Gläubige seine/ihre Zeit nicht anders verbringen könnte. Mit Computerspielen oder auch mit Fernsehen.
Warum aber verbringen Mönche und Nonnen mehrere Stunden am Tag im Gebet? Was ist der Grund?
Gott nahe zu sein ist mein Glück
Ich möchte die Frage nach dem Warum aus meinem persönlichen Glaubensleben beantworten: Zunächst schenken mir die Gebete am Mittag, am Abend, und in der Nacht, wirklich Freude. Sie machen mir einfach Spaß. Ohne diese Freude wäre mein Gebetsleben nicht denkbar.
Wie beten?
Das Gebet meiner Wahl beschreibt Franz Jalics (1927-2021), Jesuit und Autor in seinem Buch Lernen wir beten, wie folgt:
[Die] Art des Betens verwandelt sich mit der Zeit in ein persönliches Gespräch mit Gott. Man redet, fragt, bittet, dankt, äußert seine Liebe oder Reue, gibt sich in die Hand Gottes usw. (…) Die Intensität des Nachdenkens lässt nach, statt der Gedanken überwiegen Gefühle (…) Die christliche Tradition hat dies als affektives Gebet bezeichnet (…).[1]
Die Beschreibung des affektiven Gebetes trifft es genau. Ich spreche mit Gott, und offenbare ihm, wie ich fühle: ich lobe, danke, hadere, trauere, klage an, brainstorme, lasse die Worte fließen. Kurzum: Ich teile alles ehrlich, was ich mit Gott teilen möchte.
Franz Jalics rät zusätzlich:
Man sollte sein Gebet auch gelegentlich statt mit den üblichen Formeln oder mit einer Betrachtung damit beginnen, dass man sich die folgenden Fragen stellt: Was empfinde ich Gott gegenüber? Was taucht spontan in mir auf? Ist Gott für mich gefühlsmäßig weit entfernt oder ganz nah?[2]
Gefühle beim Beten sind also für mich entscheidend. Die Freude, mich Gott in allem mitteilen zu können, ist die Basis für mein geistliches Leben. Der Grund, warum ich so gerne bete.
Ein höheres Ziel
Jedoch kenne ich auch ein übergeordnetes Ziel, das ich gerne mit dir teilen möchte: Ich suche nach der Gegenwart Gottes. Was heißt das? Ich sehne mich nach einem Gefühl, nach einer Wahrnehmung. Denn Gott ist für mich in erster Linie mit dem Fühlen erfahrbar. So kann der/die Betende erfahren: Jetzt ist Gott da! Ich weiß es einfach, weil ich es ganz klar fühlen kann.
Bruder Lorenz von der Auferstehung
Wenn ich von der Gegenwart Gottes schreibe, dann denke ich dabei sofort an einen karmelitischen Mönch, den ich entdeckt habe und von dem ich im Juni dieses Jahres gelesen habe. Es handelt sich um den Franzosen, Nicolas Hermann (um 1610-1691). Im Alter von 25 Jahren trat er in das Kloster der Karmeliten in Paris ein, wo er seinen Namen: Bruder Lorenz von der Auferstehung, bekommen hat.
Seine Oberen machten ihn zum Küchenchef und vertrauten ihm die Klosterküche an. Obwohl er eine Abneigung gegen die Küchenarbeit hatte, übte er fünfzehn Jahre lang dieses Amt demütig aus.
Um Bruder Lorenz zu verstehen, muss man begreifen, dass ihm einfache Arbeiten gerade recht waren. Nie wäre er auf die Idee gekommen, diese als zu niedrig oder gar als unwürdig zu betrachten. Ganz im Gegenteil! Wie er selbst schreibt:
Ich habe bei allen meinen Arbeiten nur dies Ziel verfolgt, alles aus Liebe zu Gott zu tun, und dabei ist es mir gut gegangen.[3]
An Gott denken
Wie Bruder Lorenz über die Gegenwart Gottes schreibt ist so einfach wie genial. Er sagt, dass es nur darauf ankomme, immer wieder am Tag innezuhalten, sich auf Gott auszurichten, sich von ihm zurückrufen zu lassen, kurzum: an ihn zu denken.
Diese Übung, nämlich der Gedanke an Gott, wird nach einer gewissen Zeit zur Gewohnheit. Natürlich kostet es auch einige Bemühungen. Bruder Lorenz schenkt aber Zuversicht, wenn er schreibt:
Und auch wenn viel Zeit und Mühe nötig ist, um diese Übung völlig zu beherrschen, so darf man doch auf keinen Fall den Mut sinken lassen, wenn die Übung misslingt (…) Ist die Gewohnheit aber erst einmal da, dann wird alles mit Lust geschehen.[4]
An anderer Stelle wird er noch deutlicher:
Diese Gegenwart Gottes verlangt zwar anfangs ein wenig Mühe, aber wenn sie treu geübt wird, dann bringt sie heimlich wunderbare Wirkungen in der Seele hervor.[5]
Es immer wieder tun
Die Übung ist also ein sich wiederholendes Denken an Gott. Das ist die Methode. Bruder Lorenz selbst hat sie für sich entdeckt und schreibt einer Ordensschwester:
Ich habe in vielen Büchern verschiedene Wege gefunden, auf denen man zu Gott kommen kann, auch verschiedene Übungen des geistlichen Lebens. Aber ich habe gemerkt, dass dies alles eher dazu beträgt, mein Gemüt zu verwirren, als dass es mir in meinem Verlangen und Suchen, ganz Gottes Eigentum zu werden, eine Hilfe wäre.[6]
Es braucht also gar keine komplizierten Strategien, um Gott zu erfahren. Ein einfacher Gedanke an Gott reicht vollkommen aus.
Was Gott verlangt
Für Bruder Lorenz ist klar, dass Gott von uns nichts Schwieriges fordert. Er sehnt sich genauso nach uns wie wir nach ihm. Bruder Lorenz rät einer 64-jährigen Frau im vierten Brief:
Von Zeit zu Zeit einen Augenblick an ihn denken, ein kurzes Wort der Anbetung, eine Bitte um seine Gnade (…) Selbst der kleinste Gedanke an ihn wird ihn erfreuen. Man braucht dazu ja auch gar nicht laut zu schreien; er ist uns näher als wir meinen.[7]
Was zu tun ist
Auf dem geistlichen Weg wird der Geist des/der Betenden geläutert. Dabei braucht es eine Eigenschaft, die im spirituellen Prozess essentiell ist: Das Loslassen, oder mit anderen Worten: Das Leerwerden.
Oder wie Bruder Lorenz es ausdrückt:
Ich weiß, dass das Herz dazu von allen anderen Dingen leer sein muss, denn Gott allein will es besitzen. Voraussetzung hierfür ist, dass alles, was nicht Gott ist, aus dem Herzen ausgeleert werden muss. Sonst kann Gott dort nicht wirken oder tun, was er will. In der Welt gibt es keine süßere und lieblichere Lebensart als den ständigen Umgang mit Gott.[8]
Auch Franz Jalics schreibt in seinem Buch Der kontemplative Weg:
Wenn ich hellwach bewusst bin, aber mein Bewusstsein leer ist, bin ich in meiner Mitte. Dort sind wir nur Geist und befinden uns am nächsten zu Gott, der reiner Geist ist. Es ist ein einfaches Bewusst-Sein, ein bewusstes Da-Sein (…) Dort kann er eine Ahnung bekommen, was es bedeutet, eins mit Gott zu sein.[9]
Das Leerwerden ist also wichtig. Oder mit anderen Worten: Auf der einen Seite braucht es den Willen Gott, täglich zu suchen, andererseits muss vom eigenen Willen losgelassen werden. Gott intensiv suchen, ohne Erwartungshaltung oder Gewinnstreben und gleichzeitig loslassen. Ist das paradox? Vielleicht.
Wie Gott ist
Für Bruder Lorenz ist Gott wie ein guter Freund, der bei ihm zu Gast ist. Wie unhöflich wäre es da, ihn abzuweisen oder gar zu beleidigen. Bruder Lorenz lebte in einer intensiven Gottesbeziehung. Etwas, nachdem wir alle streben können. Das zeigt sich in seinem fünften Brief an eine Ordensschwester:
Gott gibt mir die Schlüssel zu seinen Schätzen und behandelt mich überall wie seinen besten Freund. Ununterbrochen spricht er mit mir und amüsiert sich mit mir auf tausend und abertausend Weisen.[10]
Über die Liebe
Neben dem Denken an Gott sind auch die Liebe und der Glaube wichtig. Ohne sie kann diese Übung, wie sie von Bruder Lorenz beschrieben wird, nicht ihr volles Potenzial entfalten. Bruder Lorenz rät im neunten Brief an dieselbe Ordensschwester im März 1689:
Um aber Gott kennenzulernen, muss man oft an ihn denken, und wenn wir ihn lieben, dann werden wir auch oft an ihn denken. Denn unser Herz ist da, wo unser Schatz ist. So lassen Sie uns denn oft und mit guten Gedanken an ihn denken![11]
Die dunkle Nacht
Auch Bruder Lorenz kannte Zeiten von Verzweiflung. Viele Jahre quälte ihn das Gefühl eines abwesenden Gottes. Er schreibt an einen Ordensbruder:
Ich will Ihnen jedoch auch sagen, dass ich in den ersten zehn Jahren viel durchgemacht habe […] In der ganzen Zeit kam ich oft zu Fall, stand aber immer gleich wieder auf.[12]
Was rät Bruder Lorenz, im ersten Gespräch mit dem Herrn Beaufort, am 3. August 1666?
In Zeiten der Dürre und Verlassenheit müssen wir treu ausharren. Auf diese Weise prüft Gott unsere Liebe zu ihm. So üben wir uns in den guten Werken des Verzichts und der Hingabe.[13]
Was, wenn er weg ist?
Bruder Lorenz äußert auch eine Angst, die jeder/jede Gläubige kennt: Zeiten der Dürre und Verlassenheit. Es ist die Angst, dass sich Gott nach einer intensiven Gotteserfahrung wieder entzieht. Er sagt im dritten Gespräch mit dem Herrn von Beaufort am 22. November 1666:
Es wäre mein größtes Unglück, würde ich Gott, den ich nun so lange besessen habe, empfindlich fühlbar verliere; aber Gott gibt mir die feste Zusicherung, dass er mich nicht gänzlich verlassen will und mir die Kraft geben wird, das Übel, das er über mich verhängen wird, zu ertragen.[14]
Bruder Lorenz weiß: Wenn Gott abwesend ist, handelt es sich um eine Prüfung. Er weiß auch: Gott wird die Kraft geben, und durch die Nacht und den Schmerz der Seele führen. Ein mutmachender Gedanke!
An anderer Stelle schreibt er im Januar 1691 an eine Ordensschwester über die Notwendigkeit von Ausdauer und Geduld:
Gott wird sie [die Gnade] denen, die ihn inständig darum bitten, nicht versagen. Klopfen Sie an seiner Tür an; klopfen Sie beharrlich an. Ich stehe Ihnen dafür ein, dass er Ihnen zu seiner Zeit die Tür öffnen wird, wenn Sie sich nicht entmutigen lassen. Er wird Ihnen mit einem Mal geben, worauf er Sie viele Jahre hat warten lassen.[15]
Das heißt: Wer Gott beständig sucht, wird belohnt. Bleibe also auch du dran, auch wenn dein Gebetsleben vorübergehend zäh geworden ist und nichts vorwärts zu gehen scheint. Denn:
Wir sind Menschen, die Gott demütig machen möchte durch unzählige Unannehmlichkeiten und Leiden, innerlich wie äußerlich.[16]
Gehörst du dazu?
In der christlichen Tradition betrachtet man eine Gotteserfahrung als Geschenk Gottes an die Menschen. Natürlich müssen wir uns aber auch anstrengen. Den höchsten Weg geht der, der sich bemüht und sich von Gott beschenken lässt. Es braucht aber viel Zeit dahin zu kommen und eben die Gnade. Bruder Lorenz formuliert das so:
Ich weiß allerdings sehr wohl, dass nur wenige Menschen bis zu dieser Stufe gelangen, und dass es eine Gnade ist, die Gott nur einigen wenigen auserwählten Seelen erweist.[17]
Auch ich hoffe darauf, Gott eines Tages immerwährend zu erleben. Franz Jalics schreibt in seinem Buch Der kontemplative Weg folgendes dazu:
Ab und zu fängt Gott jedoch an, einzelne Menschen schon in diesem Leben ganz behutsam, geheim und in der Mitte ihrer Seele dieses Sehen Gottes zu schenken. Das nennen wir die Gnade der Kontemplation.[18]
Wie findest du Gott?
Hier noch ein abschließender Gedanke: Die Übung der Kontemplation ist bei Bruder Lorenz das schlichte Denken an Gott. Er verzichtet darauf, von „Kontemplation“ zu sprechen, so wie das Franz Jalics tut.
Jeder und jede findet einen anderen Zugang zu Gott. Die Methoden sind ganz unterschiedlich und haben verschiedenen Namen: Die einen reden vom kontemplativen Weg, andere vom inneren Gebet (wie bei Madam Guyon), andere finden den Zugang zu Gott im affektiven Gebet (wie oben beschrieben), über das Ruhegebet oder über das Herzensgebet. Wieder andere beten den Rosenkranz oder besuchen die Eucharistiefeier, freikirchliche Gemeinden oder gründen Hauskreise zum gemeinsamen Gebet.
Der Blog soll dich inspirieren, deinen eigenen, individuellen Zugang zum Göttlichen zu finden. Entdecke deine persönliche Weise zu beten, und dann starte dein Abenteuer mit Gott …
Ein „einfacher“ Weg
Viele Menschen in unserer Zeit sehnen sich nach einer authentischen Begegnung mit Gott. Wie schön ist es, dass wir in unserer christlichen Tradition so viele Frauen und Männer, Nonnen und Mönche haben, die voller Weisheit sind und Wege zu Gott lehren.
Ein solcher Mönch ist Bruder Lorenz. Er gibt tolle Hinweise, wie die Gegenwart Gottes erfahrbar wird. Seine Methode ist dabei so einfach wie genial: An Gott denken. Bei keinem anderen christlichen Autor habe ich bisher von so praktikablen und tiefgründigen Hinweisen gelesen, wie Gott zu finden ist.
Ich hoffe du hast etwas für dich mitnehmen können und weißt nun, wie du Gott im Alltag begegnen kannst.
Quellen:
[1] Jalics, Franz: Lernen wir beten (Topos Taschenbücher), 2. Aufl., Topos plus, 01.09.2010, S. 62.
[2] Jalics, 2010, S. 45.
[3] Lorenz, Bruder/Reinhard Deichgräber: All meine Gedanken sind bei dir: In Gottes Gegenwart leben (Klassiker der christlichen Spiritualität), 3. Aufl., Neufeld Verlag, 22.09.2014, S. 43.
[4] Lorenz/Deichgräber, 2014, S. 109.
[5] Ebd., 110.
[6] Ebd., 85.
[7] Ebd., 66.
[8] Ebd., 62
[9] Jalics, Franz: Der kontemplative Weg (Ignatianische Impulse), 7. Aufl., Echter, 01.09.2010, S.24.
[10] Lorenz/Deichgräber, 2014, S. 71.
[11] Ebd., 79.
[12] Ebd.,69.
[13] Ebd., 42.
[14] Ebd., 52.
[15] Ebd., 93.
[16] Ebd., 98–99.
[17] Ebd., 112.
[18] Jalics, Franz, 2010, S.14.
Literaturverzeichnis:
Jalics, Franz: Der kontemplative Weg (Ignatianische Impulse), 7. Aufl., Echter, 01.09.2010.
Jalics, Franz: Lernen wir beten (Topos Taschenbücher), 2. Aufl., Topos plus, 01.09.2010.
Lorenz, Bruder/Reinhard Deichgräber: All meine Gedanken sind bei dir: In Gottes Gegenwart leben (Klassiker der christlichen Spiritualität), 3. Aufl., Neufeld Verlag, 22.09.2014.