Langweilst Du Dich?
Mit Sicherheit kennst Du den Spruch: Ich langweile mich gerade zu Tode. Der Volksmund zeigt auf, wie dramatisch Langeweile empfunden werden kann. So schlimm, dass sie in diesem Ausspruch sogar tödlich ist.
Die Wüstenväter geben Antworten
Was also ist diese Langeweile, spirituell betrachtet? An dieser Stelle möchte ich dir einen Wüstenvater und dessen Ausführungen zur Langeweile, oder Überdruss – wie er es nennt – vorstellen. Es handelt sich um Evagrius Pontikus. Ein Wüstenvater aus dem 4. Jahrhundert n. Chr.
Wüstenväter wurden alle die genannt, die sich in die ägyptische oder syrische Wüste zurückzogen und dort als Einsiedler lebten und beteten. Ziel des Rückzugs in die Wüste ist die Abkehr des Weltlichen, um allein für Gott zu leben.
Einsiedler gibt es in jeder Religion und ich finde es erbaulich, zu wissen, dass auch wir im Christentum, Einsiedler und Asketen kennen, die ihren Glauben so mutig lebten.
So ist Johannes der Täufer in unserer Tradition ein erster Asket, denn „er trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden und aß Heuschrecken und wilden Honig“ (Mk 1,6).
Vor kurzem habe ich eine Doku entdeckt, die drei Sadhus auf einer Pilgerreise von Birethanti nach Muktinath – einer der wichtigsten Hindu Pilgerstätten Nepals – begleitet. Spannend, lehrreich und absolut inspirierend. Sadhus sind im Hinduismus heilige Männer. Sie entsagen allem Materiellen, leben von den Spenden der Gläubigen, praktizieren Yoga und Meditation. Wie genial, dass auch wir im Christentum solche mutigen Frauen und Männer kennen, die sich gegen die Konventionen ihrer Zeit erfolgreich gewehrt haben.
Weniger Politik, mehr Spiritualität[1]
Das positive Beispiel und die Weisheiten vieler Mystiker werden meines Erachtens viel zu wenig in den Kirchen gelehrt, gar thematisiert. Deshalb gibt es diesen Blog. Ich möchte den Blick weiten und aus der christlichen Kultur – mit ihren ganz eigenen Methoden, Techniken und philosophischen Ansätzen – schöpfen.
Akedia
Aber zurück zu Evagrius. Du erinnerst dich, er sprach oft von Überdruss oder Langeweile. Im Altgriechischen steht hier der Begriff: Akedia.
Gedanken und Dämonen
Evagrius bezeichnet die „Gedanken“ oft auch als Dämonen. Engel geben nach seiner Lehre gute Gedanken ein, schlechte werden durch Dämonen verursacht.[2]
So kann Evagrius zum Beispiel sagen, dass ein Mönch von Gedanken des Zorns heimgesucht wird, oder er kann sagen, dass der Dämon des Zorns den Mönch aufstachelt. Das ist für ihn dasselbe.
Das mag uns heute sehr befremdlich erscheinen. Evagrius propagiert auch nicht einen wirren Aber- und Dämonenglauben. Vielmehr geht es ihm darum, was moderne Psychologen – die sich mit Evagrius befassen – in dieser dämonologischen Deutung sehen: nämlich eine Hilfe für die Mönche: sie identifizieren sich nicht mit diesen Gedanken. Ja sie betrachten sie als etwas, was auf sie zukommt. Dadurch hat der Mönch eine gewisse Distanz von seinen Emotionen und Gedanken.[3]
Nicht meine Gedanken
Also ganz schön clever! Wenn ich mich nicht mit meinem Gedanken identifiziere, hat er auch keine Macht über mich. Ich kann ihn von allen Seiten her betrachten, ihn denken, ohne große Ängste, und Verzweiflung. Das wiederum lässt uns zu besonnenen Menschen werden, die – egal, was ihnen ihr Innerstes aufzeigt – gelassen bleiben. Denn „Gelassenheit verhindert große Sünden“ (Pred 10,4).
Der Gedanke des Überdrusses
Evagrius schildert das Verhalten eines von der Akedia Befallenen recht humorvoll:
Das Auge eines Trägen schaut vielfach durch die Fenster, und sein Geist stellt sich die Besucher vor. Es knarrt die Tür, und er springt auf; er hört eine Stimme und blickt neugierig aus dem Fenster, er geht von dort nicht weg, sondern starrt gaffend hinaus. Bei der Lesung gähnt der Träge vielfach und fühlt sich mächtig zum Schlaf hingezogen; er reibt sich die Augen vom Buche weg und blickt zur Wand hin. Dann schaut er wieder ins Buch, liest ein wenig und müht sich unnütz ab, den Sinn der Worte zu ergründen […] Zuletzt faltet er das Buch zusammen und legt es unter den Kopf und schläft einen nicht allzu tiefen Schlaf; denn der Hunger weckt hernach seine Seele, und er stillt ihn.[4]
Akedia bleibt eine große Versuchung für die Einsiedler. Doch wer sie überwindet und durch diese Krise geht, wer standhält, der erfährt tiefen inneren Frieden.[5]
Überdruss – ein altes Phänomen
Ich will also zeigen, dass das Problem der Langeweile – bei Evagrius der Dämon der Akedia – schon sehr früh in der monastischen Tradition Thema war. Und so dürfte die Akedia jedem spirituellen Menschen in dieser Form bekannt sein. Der aufmerksame Leser hat erkannt, dass es hier auch eine Parallele zu der Dunklen Nacht der Seele gibt: Gott scheint fortgegangen zu sein, man befindet sich in einem spirituellen Vakuum, nichts scheint vorwärts zu gehen, man fühlst sich verlassen.
Gähnende Leere
Ich kenne den Überdruss in meinem spirituellen Leben sehr genau. Es kommt vor, dass er mich gegen Nachmittag befällt. Mir ist dann alles egal, ich bin gleichgültig, vor allem spüre ich eine Leere in mir, die mich zur Verzweiflung bringt. Eine Lustlosigkeit quält mich und vor allem: eine ermattende Langeweile. Ich fühle mich von Gott verlassen. Ein wirklich unangenehmes Gefühl.
Die Methode
Wie antworten die Wüstenväter auf die Akedia? Sie wenden eine Methode an, die antirrhetische Methode genannt wird. Das Substantiv lautet Antirrhetikos, was altgriechisch ist und so viel bedeutet wie „Widerrede“. Man widerspricht sozusagen dem negativen, aufkommenden Gedanken, indem man ihm ein bestimmtes Wort entgegen spricht. Modern könnte man das auch als Affirmation beschreiben.
Beispiele
Wenn ein Mensch in Hochmut verfällt, kann er das Wort aus 1 Kor 1,31 zu Hilfe nehmen: „Wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn.“
Bei Nichtloslassen können: „Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist (Phil 3,13).
Bei Sorgen: „Alle eure Sorgen werft auf Gott; denn er sorgt für euch“ (1 Petr 5,7).
Bei Trauer: „Ein zerschlagenes Herz, wird Gott nicht geringschätzen“ (Ps 51.19).
Statt sich vom negativen Gedanken beherrschen zu lassen, soll der Betende immer wieder diese positiven Worte der Befreiung wiederholen, „bis es ihn von innen her verwandelt und das negative Wort an Kraft verliert.“[6]
Es war eine bekannte Methode bei den Wüstenmönchen, ein Wort der Schrift, das ihnen wichtig war, immer und immer zu wiederholen, es gleichsam wiederzukauen […] So sollen alte Prägungen durch beständiges, positives Widerreden aufgelöst und eine positive Prägung möglich werden. [7]
Für den Überdruss, die Langeweile stehen im „Antirrhetikos“, ein Werk von Evagrius Pontikus, viele Bibelzitate. So soll der Betende zum Beispiel – wenn ihm die Akedia zusetzt – wiederholen: „Voller Geduld harrte ich auf den Herrn, und er achtete auf mich und hörte auf mein Bitten“ (Ps 40,2).
Oder: „Sei in der Hoffnung fröhlich, in der Bedrängnis geduldig, im Gebet beharrlich“ (Röm 12,12).
Ihr seht schon: Es geht immer darum, im Gebet auszuharren, den kritischen Zustand der Akedia, zu durchschreiten und auf Gott zu hoffen.
Moderne Wege
Aus meiner Sicht kann man mit der Langweile auf zwei Arten umgehen: Entweder man nimmt sich vor, die Leere sinnvoll zu füllen, zum Beispiel: ein neues Hobby, das Erlernen einer Fremdsprache, Sport, Lesen eines spannenden Romans, ein Instrument spielen, etc. Das ist mit Sicherheit auch eine Möglichkeit mit der Langeweile, mit der Akedia umzugehen.
Doch wie oft ertappen wir uns dabei, wie wir auf der Flucht vor uns selbst sind. Wenn wir alleine sind, brauchen wir eine Beschäftigung. Wir schalten den Fernseher oder das Radio an, um uns abzulenken.[8]
Hier kann eine spirituelle Deutung sehr hilfreich sein, nämlich sich direkt mit der Langeweile zu konfrontieren. Ich lenke mich nicht ab, sondern halte mich in diesem Spannungszustand aus. Ganz wichtig dabei: Ich halte mich, die Langeweile und meinen ganzen Frust Gott hin.
Ein neues Gebet
Hier kann das Ruhegebet aus der Tradition der Wüstenväter sehr nützlich sein. Man muss nicht viel tun, keine komplizierten Gebetsformeln sprechen oder besonders lange Gebete formulieren. Einfach da sein, Atmen und sich in die offene, liebende, wache Aufmerksamkeit begeben – das genügt. Hier habe ich über das Ruhegebet geschrieben.
Hier noch ein Tipp: Mir gelingt das Ruhegebet am besten im Liegen. Ich setze meine Schlafmaske auf, um alle Außenreize zur Ruhe kommen zu lassen. Ich entspanne und stelle mich in diesem heiligen Moment der Stille, in die Gegenwart Gottes. Ich halte ihm meine Sorgen, Ängste, kurzum meinen kompletten, momentanen Gemütszustand – so wie er jetzt gerade ist – hin. Das Ruhegebet ist für mich essentiell geworden und begleitet mich jeden Tag. Es füllt die Leere und verhindert so die Langeweile.
Eine neue Sicht
Willigis Jäger (1925–2020), der bekannte Benediktinermönch und Zen Meister, hat mir 2009 in einem Zen-Sesshin am Benediktushof in Holzkirchen, während eines Dokusan etwas wichtiges mitgeteilt. Er sagte: „Am Ende der Langeweile, dann, wenn alle inneren Bilder, Vorstellungen und Visionen zur Ruhe gekommen sind, dann kommt das große Erwachen.“
Ist das nicht großartig? Eine tolle und neue Umdeutung der Langeweile. Die Langweile ist plötzlich kein spiritueller Stillstand mehr, sondern eine Möglichkeit – wenn sie denn richtig behandelt wird – zu erleuchten. Genial!
Langeweile als Lehrmeister
Ich glaube, dass jeder Mensch sich früher oder später mit der Langeweile befassen muss. Und da hilft es zu erkennen: Der wahre Meister ist derjenige, der gelernt hat, die Langeweile zu meistern.
Halte dich also in der Langeweile aus! Und wie immer: Erfahre selbst! Prüfe alles! Lass Dich inspirieren!
Foto: Khon/Shutterstock.com
Quellen:
[1] Domradio Interview mit WELT-Chef UIf Poschardt
[2] Vgl. Trunk, Leo/Fidelis Ruppert/Anselm Grün: Die große Widerrede: Antirrhetikos, 5. Aufl., Münsterschwarzach, Deutschland: Vier-Türme GmbH, 2019, S. 14.
[3] Vgl. Trunk et al., 2019, S. 14.
[4] Evagrius Ponticus: Tractatus de octo spiritibus malitiae, hrsg. von Jacque Paul Migne, 1865, zitiert nach Trunk et al., 2019, S. 21-22.
[5] André Louf: Die Akedia bei Evagrius Ponticus, 1974, zitiert nach Trunk et al., 2019, S. 22.
[6] Vgl. Trunk et al., 2019, S. 27-28
[7] Trunk et al., 2019, S. 29
[8] Vgl. Grün, Anselm: Der Anspruch des Schweigens, 12. Aufl., Münsterschwarzach, Deutschland: Vier-Türme-Verlag, 2013, S. 18-19.
Literaturverzeichnis:
Grün, Anselm: Der Anspruch des Schweigens, 12. Aufl., Münsterschwarzach, Deutschland: Vier-Türme-Verlag, 2013.
Trunk, Leo/Fidelis Ruppert/Anselm Grün: Die große Widerrede: Antirrhetikos, 5. Aufl., Münsterschwarzach, Deutschland: Vier-Türme GmbH, 2019.