Anthroposophische Tipps für den Weg: Teil 2
Welche innere Haltung ist laut Rudolf Steiner als Tugend zu erstreben?
Eine gewisse Grundstimmung der Seele muss den Anfang bilden. Der Geheimforscher nennt diese Grundstimmung den Pfad der Verehrung, der Devotion gegenüber der Wahrheit und Erkenntnis. Nur wer diese Grundstimmung hat, kann Geheimschüler werden.[1]
Wer Geheimschüler werden will, muss sich daher energisch zur devotionalen Stimmung erziehen. Er muss überall in seiner Umgebung, in seinen Erlebnissen dasjenige aufsuchen, was ihm Bewunderung und Ehrerbietung abzwingen kann. Begegne ich einem Menschen und tadle ich seine Schwächen, so raube ich mir höhere Erkenntniskraft; suche ich liebevoll mich in seine Vorzüge zu vertiefen, so sammle ich solche Kraft.[2]
Das finde ich einen sehr schönen Gedanken; ich weiß nicht wie es dir geht. Aber ich finde in unserem modernen Leben sind wir immer dabei sofort das Negative zu sehen. Die meisten Menschen – dazu gehöre ich auch leider viel zu oft – finden das Haar in der Suppe und verurteilen Menschen sehr schnell aufgrund ihrer politischen Meinung oder generell wegen Meinungsverschiedenheiten. Doch was, wenn wir eine Grundstimmung der Verehrung in uns entwickeln? Wenn wir im Menschen das Gute sehen, kann dieser darin bestärkt wachsen und gedeihen. Und auch mit mir macht das etwas: ich werde liebevoller, gütiger und barmherziger. Eine solche Verehrung kann sich in der Liebe zu Jesus Christus entfalten. Oder zu einem Heiligen. Vielleicht wünscht auch du dir, eine solche Grundstimmung in deiner Seele. Spüre nach, was mit dir geschieht, wenn du verurteilst oder wenn du bewunderst. Zwei ganz gegensätzliche Grundstimmungen. In der einen wirst du regelrecht nach unten gezogen, in der anderen bekommt deine Seele Flügel.
Es genügt nicht, dass ich äußerlich in meinem Verhalten Achtung gegenüber einem Wesen zeige. Ich muss diese Achtung in meinen Gedanken haben. Damit muss der Geheimschüler beginnen, dass er die Devotion in sein Gedankenleben aufnimmt. Er muss auf die Gedanken der Unehrerbietung, der abfälligen Kritik in seinem Bewusstsein achten. Und er muss geradezu suchen, in sich Gedanken der Devotion zu pflegen.[3]
Es geht also auch wieder um das eigene Denken: dieses zu schulen und hohe Ideale wie Mitgefühl und Nächstenliebe in sich zu fördern. Ein schöner Gedanke!
[Der Geheimschüler] lernt nicht, um das Gelernte als seine Wissensschätze aufzuhäufen, sondern um das Gelernte in den Dienst der Welt zu stellen […] Jede Geheimschulung muss [den Grundsatz] dem Schüler einprägen: Er heißt: Jede Erkenntnis, die du suchst, nur um dein Wissen zu bereichern, nur um Schätze in dir anzuhäufen, führt dich ab von deinem Weg; jede Erkenntnis aber, die du suchst, um reifer zu werden auf dem Weg der Menschenveredelung und der Weltenentwicklung, die bringt dich einen Schritt vorwärts […] Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertöte in deiner Seele eine Kraft; jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte.[4]
Diese Stelle finde ich persönlich sehr faszinierend. Sie besagt, dass wir nicht (nur) für uns selbst meditieren, beten, spirituell aktiv sind, sondern, dass es auch eine Ebene gibt, die alle Mitmenschen um uns herum, miteinbezieht. Rudolf Steiner betont wieder und wieder, wie wichtig es ist, eine Ethik in uns auszubilden, die auf den Mitmenschen ausgerichtet ist. Weisheit wie er sagt, kann sich nur vereint mit Liebe zum Mitmenschen wirkmächtig entfalten. Auf dem spirituellen Weg geht es also um hohe Ideale der Mitmenschlichkeit.
Der Geheimschüler hat sich eine kurze Zeit von seinem täglichen Leben auszusondern, um sich in dieser Zeit mit etwas ganz anderem zu befassen, als die Gegenstände seiner täglichen Beschäftigung. Der Mensch, der solche abgesonderten Augenblicke in der rechten Art sucht, wird bald bemerken, dass er durch sie erst die volle Kraft zu seiner Tagesaufgabe erhält […] Wenn jemand wirklich nicht mehr Zeit zur Verfügung haben sollte, so genügen fünf Minuten jeden Tag.[5]
Rudolf Steiner spricht in diesem Textzitat von der Meditation, der Versenkungspraxis. Er sagt, fünf Minuten in Stille reichen völlig aus. Eine regelmäßige kontemplative, meditative Übungspraxis kann sehr sinnvoll sein.
Was man in den ausgesonderten Augenblicken anzustreben hat, ist nun, die eigenen Erlebnisse und Taten so anzuschauen, so zu beurteilen, als ob man sie nicht selbst, sondern als ob sie ein anderer erlebt oder getan hätte […] Der Geheimschüler muss die Kraft suchen, sich selbst in gewissen Zeiten wie ein Fremder gegenüberzustehen […] Erreicht man das, dann zeigen sich einem die eigenen Erlebnisse in einem neuen Lichte.[6]
Im Buddhismus gibt es das Konzept des „inneren Zeugen“. Wer ein wenig Erfahrung in Meditation hat, kann diesen bald erfahren. Was ist dieser? Der Meditierende erlebt, wie nicht er denkt, sondern dass es in ihm denkt, und er diesen Denkprozess wahrnehmen kann. Dadurch bekommt der Schüler einen gewissen Abstand zu seinem Denken. Schwere Erfahrungen, die er im Leben gemacht hat, ordnen sich neu und können distanzierter betrachtet werden. Die Identifikation mit „seiner“ Lebensgeschichte kann geheilt werden, sodass er freier wird.
Nun ein Zitat, das ich persönlich sehr wertvoll finde, weil es mich ganz direkt betrifft. Es geht um emotionale Worte, die den Übenden verletzen. Also Worte von schwierigen Menschen. Wie sollen wir damit umgehen und wie sieht das Rudolf Steiner?
[Der Geheimschüler] hört zum Beispiel ein Wort, durch das ein anderer ihn verletzen oder ärgern will. Vor seiner Geheimschülerschaft wäre er auch verletzt worden oder hätte sich geärgert. Da er nun den Pfad der Geheimschülerschaft betreten hat, ist er imstande, dem Wort seinen verletzenden oder ärgerlichen Stachel zu nehmen, bevor es den Weg zu seinem Innern gefunden hat […] In sich selbst muss der Geheimschüler einen neuen, einen höheren Menschen gebären. Dieser „höhere Mensch“ wird dann der „innere Herrscher“, der mit sicherer Hand die Verhältnisse des äußeren Menschen führt […] Hängt es von etwas anderem als von mir ab, ob ich mich ärgere oder nicht, so bin ich nicht Herr meiner selbst, oder – noch besser gesagt –: ich habe den „Herrscher in mir“ noch nicht gefunden. Ich muss in mir die Fähigkeit entwickeln, die Eindrücke der Außenwelt nur in einer durch mich selbst bestimmten Weise an mich herankommen zu lassen; dann kann ich erst Geheimschüler werden.[7]
Wir brauchen also eine Charakterschulung, die die Geisteswissenschaft von Anfang an lehrt. Gerade für mich trifft dieser Text voll ins Schwarze. Denn oft handle ich zu unbeherrscht und zu impulsiv. Es geht aber darum, dieses „Unbeherrschtsein“ zu überwinden. Die Geisteswissenschaft charakterisiert sich ja nicht dadurch, dass sie ein einfacher, bequemer Weg ist. Ganz im Gegenteil: Der Anthroposoph – im richtigen Licht verstanden – verpflichtet sich regelrecht, anders zu werden, anders zu sein; das was der gewöhnliche Mensch als unabänderliche Charaktereigenschaft ansieht, sieht der Anthroposoph als Möglichkeit, ein Ideal, das er wertschätzt – wie zum Beispiel die Geduld, die Ausdauer, die Disziplin – zu erreichen.
Lesen wir von dem Moment einer Erleuchtung, so wie Rudolf Steiner sie betrachtet:
[Der Geheimschüler] sieht ein, dass sich in Gedanken nicht bloße Schattenbilder ausleben, sondern, dass durch sie verborgene Wesenheiten zu ihm sprechen. Es fängt an, aus der Stille heraus zu ihm zu sprechen […] Eine innere Sprache – ein inneres Wort – hat sich ihm erschlossen. Beseligt im höchsten Grad fühlt sich der Geheimschüler, wenn er diesen Augenblick zum ersten Mal erlebt. Über seine ganze äußere Welt ergießt sich ein inneres Licht. Ein zweites Leben beginnt für ihn. Der Strom einer göttlichen, einer gottbeseligenden Welt ergießt sich durch ihn.[8]
Inspiriert das auch dein Herz so sehr wie meines? Sehnst du dich auch nach Erleuchtung, nach einer Glückseligkeit, die aus dem Geistigen kommt? Wie erreicht aber der Geheimschüler dieses Ziel?
So ist die Meditation der Weg, der den Menschen auch zur Erkenntnis, zur Anschauung seines ewigen, unzerstörbaren Wesenskern führt und nur durch sie kann der Mensch zu solcher Anschauung kommen […] Oft wird gefragt, warum weiß der Mensch nichts von seinen Erlebnissen, die jenseits von Geburt und Tod liegen? Aber nicht so sollte gefragt werden. Sondern vielmehr so: wie gelangt man zu solchem Wissen? In der richtigen Meditation eröffnet sich der Weg.[9]
Und noch eine ganz wichtige Ergänzung:
Jeder kann dieses Wissen [was jenseits von Geburt und Tod liegt] erwerben; in jedem liegen die Fähigkeiten, selbst zu erkennen, selbst zu schauen, was echte Mystik, Geisteswissenschaft, Anthroposophie und Gnosis lehren […] In der Geheimwissenschaft sind die Mittel gegeben, die geistigen Ohren und Augen zu entwickeln und das geistige Licht zu entzünden.[10]
Rudolf Steiner gibt den Hinweis, dass der Schüler sich mit hohen Gedanken umgeben soll, welche bereits Mystiker und Mystikerinnen vor ihm gemacht haben. Solche Schriften dienen ihm zu einem erhöhten Bewusstsein und sollen Gegenstand seiner Überlegungen und seiner Mediationen sein.
Ein abschließender Tipp: Im Buch „Kanon der spirituellen Literatur: 50 Klassiker im Porträt“, von Michael Plattig werden Schriften und Bücher von Mystikern und Mystikerinnen vorgestellt. Bei näherem Interesse an einer Autorin, einem Autor, kann das Buch bestellt und „studiert“ werden.
Lesen wir also spirituelle Literatur, die unsere Seele beflügelt. Der Weg zeigt sich vor uns klar und deutlich. Wie sich aus den dichten Nebelschwaden die Berge hervortun, so tut sich unser Erkennen hervor.
Quellen:
[1] Steiner, Rudolf: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Createspace Independent Publishing Platform, 08.02.2016, S. 13.
[2] Steiner, 2016, S. 14.
[3] Steiner, 2016, S. 15.
[4] Ebd., S. 17-18
[5] Ebd., S. 20
[6] Ebd., S. 20-21
[7] Ebd., S. 32
[8] Ebd., S. 24
[9] Ebd., S. 26
[10] Ebd., S. 26