Über die Bedeutung von Demut

„Steige nicht so hoch hinauf! Wer hoch oben ist, der kann tief fallen!“ Das gab meine Großmutter ihren Kindern als gut gemeinten Rat mit auf den Weg. Sie sprach sicherlich von der Demut, ein schwieriger Begriff, den wir heutzutage eher negativ verstehen. Meine Großmutter sah Demut sicherlich falsch. Denn Demut kann fälschlicherweise als „kleingeistig“ verstanden werden, genau dann, wenn man nie seine Komfortzone verlässt, um nach Höherem zu streben.

Anselm Grün schreibt:

Demut erinnert an Menschen, die nicht zu sich selbst stehen, die sich selbst klein machen, die der Verantwortung aus dem Weg gehen, die sich nichts zutrauen, auf die man deshalb auch nicht bauen kann. Demut hat den Beigeschmack von „einen Buckel machen“, kriechen, den Anforderungen des Lebens ausweichen.[1]

Doch all das meint Demut nicht! „Es geht nicht um eine künstliche Selbsterniedrigung, sondern um den Mut, sich ehrlich der Wahrheit zu stellen.[2]

Demut heißt sich entwickeln

Ich bin fest davon überzeugt, dass Gott dem viel geben wird, der um viel bittet. Er will, dass wir uns entfalten, dass wir uns nach mehr ausstrecken, dass wir durch den Glauben wahre Meister werden, dass wir nach mystischen Erfahrungen streben. Und der Demütige – in einem richtigen Sinn verstanden – wird all das auch erhalten. Gott kann sich nur verschenken, doch wir müssen ihn suchen.

Alois Prinz, ein Biograf der Theresa von Ávila, schreibt über Demut:

Demut [wird] nicht verstanden im Sinn von sich klein machen oder als ängstliche Unterwürfigkeit. Teresa konnte Leute nicht ausstehen, die sich für demütig hielten und im Grunde nur eine ‚feige Seele‘ hatten. Sie empfahl jedem, die eigenen Wünsche nicht klein zu halten, sondern hoch hinauszuwollen. [3]

Greatness lives within each of us

Sicherlich kennst du das amerikanische Konzept der „Greatness“. Es besagt, dass ein Mensch danach streben soll, in einem Feld seiner Wahl, wie zum Beispiel im Sport, in der Kunst oder in jedem anderen Handwerk, wahre Meisterschaft zu erlangen. Derjenige, der auf dem Pfad der Greatness wandelt, macht sich von Limitations, also geistigen Begrenzern, frei. Man gibt sein Bestes und ist auf einem kontinuierlichen Weg sein Handwerk mehr und mehr zu vervollkommnen. Außerdem geht es im Konzept der Greatness um ein richtiges, mentales Mindset: nämlich Hindernisse zu meistern, ständig an sich zu arbeiten, um wahre Größe (Greatness) zu erlangen.

Und genau darum geht es auch Gott. Gott will unsere Greatness, er will, dass wir uns entfalten, entwickeln, und weitervoranschreiten. Wir sollen uns mental flexibel ausrichten und nach mehr streben

Demut heißt geistlich wachsen

Es geht also auf dem spirituellen Weg immer um Reife, um Wachstum. Eine Religion, die falsche Demut und Fanatismus lehrt, zerstört den Menschen. Das, was vorher als gute Gaben dem Menschen zur Verfügung stand, kehrt sich ins Gegenteil und macht ihn kaputt. Wer die Demut in einem positiven Sinne deutet, meint also eine Entwicklung, weg von einem kleingeistigen, unterentwickelten, schmächtigen Charakter.

Flügel oder Ketten

Aus meiner Erfahrung ist es ein ganz schmaler Grat zwischen einem heilsamen Gottesverständnis und einem Gotteswahn. Ich kann mich von der Bibel inspirieren lassen, oder mich auch darin verirren. Achte darauf, dass dein Glaube deiner Seele Flügel verleiht, statt sie in Ketten zu legen.

Du kannst deinen christlichen Glauben, und jede andere Philosophie immer danach prüfen: Werde ich beflügelt, macht mein Glaube meine Seele leicht, spüre ich große Inspiration, Liebe, Hingabe, Hoffnung und Freiheit? Oder zerstört mich mein Glaube?

Falsche Gottesbilder

Hier sei auch auf die Gottesbilder zu verweisen. Wer ist Gott für dich? Immer noch der strenge Richtergott, der als alter Mann, alle Sünden und Verfehlungen in ein Buch schreibt? Bitte, lass los von solchen Bildern, die nichts tun, als dir schaden.

Der Glaube unserer Ahnen

Leider wurde Glaube bei unseren Vorfahren oft dazu benutzt, um den eigenen Willen zu unterdrücken. Viele Menschen von damals versteckten ihre Ängste hinter einer scheinbaren Demut. Dabei handelte es sich nur um Kleingeistigkeit. Genau wie der ältere, demütig wirkende Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), sind auch wir heute noch anfällig für Neid, für Bitterkeit, für Frust gegenüber anderen Menschen, trotz unseres Glaubens, trotz unserer Demut.

Die Gesellschaft unserer Vorfahren hat gänzlich anders funktioniert, als die von heute. Es stand nicht so sehr im Vordergrund, sich frei zu entwickeln, als vielmehr seine Pflicht zu tun. Das was andere von mir erwarteten war wichtiger, als meinem eigenen Bauchgefühl und meiner Intuition zu folgen. Es gab da einen hohen Druck, das zu tun, was man musste, nicht so sehr was man tun wollte. All das ist eine falsch verstandene Demut. 

Demut als Voraussetzung

Ich erkenne in der Demut eine spirituelle Voraussetzung für einen konstruktiven geistlichen Weg. Auch Paulus hat das erkannt, wenn er schreibt: „Wer sich also rühmen will, der rühme sich des Herrn.“ (1 Kor 1,31). Nicht ich rühme mich wegen meiner Talente, sondern es gibt jemanden, der mich vor meiner Geburt genau so gewollt hat, wie ich bin und durch mich hindurch wirkt.

Jede Form von Überheblichkeit und Arroganz – das Gegenteil von Demut – ist für einen spirituellen Weg eher hinderlich.

Demut ist also der Weg hin zu wahrer Größe (Greatness), hin zu echten, mystischen Erfahrungen. Demut und Selbstverwirklichung sind keine Gegensätze, sondern das eine setzt das andere voraus. „Der Mut, die eigenen Grenzen zu überschreiten, und die Demut, die eigenen Grenzen anzuerkennen bedingen einander.“[4]

Das Leben bleibt unberechenbar

Demut heißt auch: sich nicht zu ernst nehmen, zu erkennen: Auch wenn ich noch so viel plane im Leben, das Leben lässt sich meistens nicht planen. Die Demut erkennt: Da gibt es jemanden, der viel mehr weiß, als ich. In seiner unendlichen Weisheit, die meine völlig übersteigt, zeigt er mir den Weg. Gott lenkt mein Leben und bei ihm bin ich gut aufgehoben.

Das Wunder der Kreativität

Demut heißt auch, sich inspirieren zu lassen. Und jeder, der schreibt oder künstlerisch tätig ist, weiß: Beim kreativen Malen will sich etwas durch den Künstler ausdrücken, er wird Kanal für etwas Höheres, vielleicht sogar für etwas Transzendentes. Wer das einmal erfahren hat, wird demütig, denn er weiß, dass eine göttliche Inspiration durch den Künstler wirkt.

Grenzen akzeptieren

Demut heißt auch, die eigenen Grenzen, das was limitiert, zu akzeptieren, als eine zutiefst menschliche Erfahrung, die jeder Mensch früher oder später erlebt. Wir müssen uns eingestehen, nicht alles zu können oder zu wissen.

Demut ist das Ergebnis der ehrlichen Auseinandersetzung mit sich selbst, die Erfahrung der Unfähigkeit, aus eigener Kraft seine Fehler und Schwächen zu besiegen.[5]

Im Gegenzug gibt es niemanden, der, alles kann. Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, die es anzunehmen gilt.

Es gibt doch keinen Menschen auf Erden, der nur Gutes tut  (Pred 7,20)

Welcher Mensch maßt es sich an, alles im Griff zu haben? Natürlich ist auch das Planen im Leben sehr wichtig, sich eben nicht nur willenlos treiben zu lassen. Aber bei all den klugen Plänen weiß der Volksmund, dass „der Mensch denkt, und Gott lenkt“.

Nichts im Griff

Nicht einmal meinen eigenen Herzschlag kann ich dauerhaft beeinflussen, weder meinen Atem in der Nacht, noch meine Verdauung. Der Mensch ist also nicht einmal wirklich Herr über seinen eigenen Körper. Bei genauerer Betrachtung hat der Mensch nichts in der Hand. Jede Sekunde kann etwas „Außerplanmäßiges“ passieren. Das ist kein Grund zur Sorge und Angst. Sondern ein Grund zur Demut. Der hilflose Mensch wirft sich voll in die Arme Gottes und vertraut ihm: Weil Gott hilft.

Die Liebe folgt der Demut

Wahrhaft demütige Menschen strahlen eine große innere Kraft aus. Ein benediktinischer Mönch, der ein Leben lang Gott sucht, hat wahre Demut gelernt. Er hat gegen seine Laster und seinen Unglauben gekämpft. Auf diesem Weg hin zu Gott hat der Mönch Tugenden, wie zum Beispiel Güte, Barmherzigkeit und Liebe entfaltet. Das geschieht, nachdem ihm bewusstwird, was an Dunkelheit und Schmerz in ihm vorhanden ist. Er ist mit seinen Schwächen und Fehlern täglich konfrontiert, und kann sich in seiner Not doch bei Gott geborgen wissen.

Alois Prinz schreibt:

Der Blick für die eigenen Schwächen und Mängel wird umso schärfer, je tiefer man einen Gott erfährt, der bedingungslos anerkennt und liebt. Für Teresa ist das vergleichbar mit einem Raum, der bis in den letzten Winkel von Sonnenlicht durchflutet wird und in dem jede Spinnwebe zum Vorschein kommt. Je heller das Licht, desto auffälliger die eigenen Fehler.[6]

Vielleicht merkst auch du wie du täglich versagst. Doch verzage nicht an deinen Fehlern und Schwächen! Sondern gestehe dir demütig ein: Ich bin nun mal nicht perfekt. Doch ich weiß, dass es da einen Gott gibt, der diese Fehler immer wieder aufs Neue verzeiht, und mich trotz alledem unendlich liebt. 

Perfektionismus heilen

Demut verhindert auch einen falschen Perfektionismus, der viele Menschen heutzutage quält. „Ich bin so, wie ich bin, und doch strebe ich nach einem höheren Ideal“, würde ein demütiger, weiser Mensch sagen. „Es gibt keinen Grund mich verändern zu müssen, und doch will ich mich verändern und nach dem Guten streben.“

„Ich bin ich, drum lieb ich mich!“, wie es Helma Köhler, eine meiner spirituellen Vorbilder einmal sagte.

Wer auf dem geistlichen Weg ist, der wird mit seinen Schatten und Verfehlungen konfrontiert. Stecke nicht den Kopf in den Sand! Sondern gestehe dir demütig ein: Ich habe Fehler. Doch Gott liebt mich und meine Fehler. Anselm Grün dazu:

In der Demut erkennt der Mensch sein Maß, das ihm gesetzt ist, dass er ein Mensch ist und nicht Gott.[7]

Demut als Weg zu Gott

Eine echte, konstruktive Demut führt zu Gott, zu sich selbst und zum Leben. Eine falsche Demut, weg von Gott, weg von sich selbst und auch weg vom Leben. Denn die Demut ist für den Menschen da. Sie soll ihn erheben, ihn in geistige, mystische Höhen führen.

Den Mount Everest in Sicht

Ich wünsche dir, dass du wahrhaft demütig beten kannst. Denn es gibt nichts Schöneres, als wahre Demut zu erleben. Das gelingt mal besser, mal schlechter. Aber bedenke: Wir sind auf einem Übungsweg. Auf einer Gebirgstour. Der Gipfel liegt nur noch wenige Stunden von uns entfernt. Es begegnen uns Gefahren, Durst und Hunger. Mit im Gepäck dabei ist die Demut. Sie hilft uns stets weiter, und am Ende werden wir unser Zeil erreichen.

Ich weiß sehr wohl, wie schwierig es ist, Demut konstruktiv zu deuten. Doch ich hoffe, ich konnte dir zeigen, wie eine vernünftig interpretierte Demut uns erhebt, statt uns niederzudrücken. Es geht auch immer um Selbstannahme und Liebe zu sich. Nur wen Gott vorher durch seine Barmherzigkeit erhoben hat, der kann sich auch heilsam in Demut üben.

Prüfe alles und behalte das Gute!

Quellen:

[1] Grün, Anselm: Demut und Gotteserfahrung, 2. Aufl., Münsterschwarzach, Deutschland: Vier-Türme-Verlag, 2018, S. 9-10.

[2] Grün, 2018, S. 23.

[3] Prinz, Alois: Teresa von Ávila: Die Biographie, 2. Aufl., Berlin, Deutschland: Insel Verlag, 2017, S. 71.

[4] Prinz, 2017, S. 72.

[5] Grün, 2018, S. 17.

[6] Prinz, 2017, S. 71-72

[7] Grün, 2018, S. 25.

Literaturverzeichnis:

Grün, Anselm: Demut und Gotteserfahrung, 2. Aufl., Münsterschwarzach, Deutschland: Vier-Türme-Verlag, 2018.

Prinz, Alois: Teresa von Ávila: Die Biographie, 2. Aufl., Berlin, Deutschland: Insel Verlag, 2017.