Wie werde ich frei? Der Weg des Zen

Kennst du das? Ein Gedanke, ein Problem, ein Ereignis, beschäftigt dich so stark, dass du darunter leidest. Immer wieder denkst du daran, bist gefangen in der scheinbar endlosen Spirale aus belastenden Gedanken und Gefühlen.

Ein halbes Jahr lang erfuhr ich genau das und ärgerte mich mit Sorgen und beklemmenden Gefühlen herum, ohne dass ich mich davon hätte lösen können. Eine Frage stellte ich mir in dieser Zeit: Wie kann ich von Ängsten freiwerden?

Meine Situation schien ausweglos. Bis ich ein Buch entdeckt habe. Nämlich einen Zen-Text, der von Taisen Deshimaru (1914-1982), einem japanischen Sōtō-Zen Mönch kommentiert wird. Es handelt sich bei dem Text, um das Shinjinmei. In letzter Zeit ist Zen wieder sehr präsent in meinem Leben, ohne dass ich dabei mein Christsein aufgebe. Man kann sagen: Zen leben, aber Christ bleiben. Dazu am Ende mehr.

Das Shinjinmei

Meister Sōsan, der dritte Vorfahre nach Bodhidharma, hat diesen Urtext des Zen verfasst. Das Shinjinmei zählt neben den drei später erschienene Werken: dem Shōdōka, dem Sandōkai und dem Hōkyō Zanmai, zum Erbe des Zen. Das Shinjinmei ist die Grundlage vieler Kōan. Das Werk besteht aus 73 Versen zu je 8 Schriftzeichen.

Im anschließend möchte ich Verse aus dem Text vorstellen, die mich tief bewegt haben und mit deren Hilfe ich meine Ängste und Sorgen lindern konnte. Vielleicht kannst auch du davon profitieren und mehr Gelassenheit in deinem Leben umsetzen. Das würde ich mir wünschen!


Vers 1

Es ist nicht schwer, den Weg zu durchdringen,

Wenn du nur frei bist

Von Neigung und Abneigung

Wie oft kommt es vor, dass wir etwas haben wollen, nach dem wir gieren, während wir uns vehement gegen Unangenehmes, Verhasstes wehren, es nicht wollen, es gar verachten? Doch wer wirklich frei sein will, der muss von extremer Liebe und Hass loslassen.

Deshimaru schreibt:

Wenn wir hier und jetzt den Weg verwirklichen, hat weder die Vorstellung eines Richtigen noch die eines Falschen mehr Platz in unserem Geist. Im Leben wird das Glück zum Unglück, das Unglück wird zum Glück. Wenn wir eine Sache gewinnen, sagt Dōgen, verlieren wir eine andere; und wenn wir eine Sache verlieren, gewinnen wir eine andere.[1]

Das ist so weise! Spürst du schon, wie es dich freimacht? Wer alle Urteile über sich und andere aufgibt, der ist unabhängig, ohne Dualität. Verzichte auf deine Neigungen und Abneigungen – nur für einen kurzen Moment. Vielleicht spürst du, wie es dir guttut.


Vers 4

Willst du den Weg

Hier und jetzt verwirklichen,

Darf keine Vorstellung

Von richtig und falsch

In deinen Geist mehr eindringen

Vers 5

Der Kampf zwischen richtig und falsch

Führt zur Krankheit des Geistes.

Es geht also darum, nicht zu urteilen, dabei weder vor einem Gedanken fliehen, noch an ihm haften. So wir das unterscheidende Denken überwunden. Das heißt im christlichen Kontext: Weder Gott zu stark suchen, noch ihn abweisen. Dann erscheint er ganz automatisch. Vielleicht ist das ein Kōan: Willst du Gott finden, darfst du ihn nicht suchen … Erst wenn ich nicht mehr nach Gott giere, sondern loslasse und leer werde, zeigt er sich. Das lehrt der Weg des Zen.


Vers 8

Wahrlich,

So du ergreifst oder zurückweist,

Bist du nicht frei.

Der Zen-Schüler löst sich von Vorstellungen, Konzepten und Ideologien. Er legt Gier (Haben-Wollen) und Hass (Nicht-Haben-Wollen) ab. Der Zen-Schüler ist nicht wählerisch; er sucht nicht und weist auch nicht zurück. Er nimmt die Dinge wie sie kommen, und ruht gelassen im Geist der Einheit. Das heißt, er akzeptiert ohne Widerstand die Soheit der Dinge in der Welt.


Vers 9

Laufe nicht den Erscheinungsformen nach,

Doch verweile auch nicht in der Leerheit.

Zen ist in seinem Ursprung ohne Ziel, ohne Gewinnstreben. Das bezeichnet das japanische Wort: Mushotoku. Wer so Zazen übt, der wird die Freiheit des Geistes erfahren. Wer mushotoku (kein Gewinnstreben) verwirklicht hat, ist in völliger Harmonie mit dem Kosmos.

Zen lehrt eine Wirklichkeit jenseits der Worte und Sprache. Dabei ist die Methode des Zen, das Zazen (die Sitzmeditation). Die Konzentration liegt beim Zazen auf der Körperhaltung, auf der Atmung und auf der Haltung des Geistes. Ohne Nutzen und Gewinnvorstellung (mushotoku); einfach da sein in der Stille; einfach sitzen (Shikantaza). Nach dem Wort von Kōdō Sawaki: „Zen? Good for nothing!“


Vers 20

Du brauchst die Wahrheit nicht zu suchen,

Wenn du nur keinen vorgefassten Urteilen

Und Meinungen anhängst.

Zen lehrt uns, frei von unserem persönlichen Ich-Bewusstsein zu werden, das voll von vorgefertigten Vorstellungen und Kategorien ist. Wie schnell bekommt ein Mensch von uns ein Lable? Sympathisch, unsympathisch, freundlich, seltsam, etc.

Wenn wir mal kurz, nur für einen kleinen Moment davon loslassen – was wir zu glauben und wissen meinen – können wir eine echte Einheitserfahrung mit Gott machen. Lass auch du – und wenn es nur für heute ist – deine Meinungen und Urteile beiseite. Spürst du, wie frei du wirst? Wie die Lasten einfach von dir abfallen?


Vers 33

Haftest du an deinem kleinlichen Geist,

So verlierst du alles Maß

Und wirst auf den Weg

Des Irrtums verschlagen.

Meister Sōsan spricht vom kleinlichen und kleingeistigen Denken;  dem Denken in Gegensätzen, das sich in These und Antithese verwickelt hat und von Meinungen und Ansichten hin und her geworfen wird. Wie will ein solcher Mensch jemals inneren Frieden finden? Wie kannst du Frieden finden, wenn du in die Zweiheit verstrickt bleibst? Das heißt gefangen in den eigenen, engen Ansichten von richtig und falsch.


Vers 43

Im Zweifel

Erfährst du Kenhen und Konchin.

Im Satori-Bewusstsein

Kennst du weder Vorliebe noch Abneigung.

Was bedeutet Kenhen und Konchin?

Kenhen entspricht der Aufregung, dem Aufgewühltsein, der Zerstreuung des Geistes. Der/die Meditierende ist in diesem Zustand den Gedanken ausgeliefert, ohne Ruhe, ewig auf der Suche. Begeisterung und Zorn gehören in diesen Bereich.

Konchin beschreibt den entgegengesetzten Zustand, nämlich den der Niedergeschlagenheit, oder Müdigkeit, die in den Schlaf führt. Angst und Traurigkeit zählen zu Konchin.

Im Zustand des Kenhen soll man beim Zazen die Augen schließen, um ruhiger zu werden. Im Zustand des Konchin soll man die Augen offenhalten, um wach zu bleiben.

Satori

Immer wieder ist von Satori die Rede. Was aber ist Satori? Es ist einfach ausgedrückt, der Erleuchtungsgeist, der Geist der Einheit, Non-dual Awareness, in Englisch. Im Satori endet alle Zersplitterung und Fragmentierung des Menschen. Satori wird meist schlagartig verwirklicht.

Taisen Deshimaru schreibt:

Meister Kyōgen hatte Satori, als ein Kiesel an ein Bambusrohr stieß, Meister Reiun, als er ein Blütenblatt von einer Pfirsichblüte fallen sah, Meister Kassan, als er den Hahn krähen hörte, und Sākyamuni nach 49 Tagen der Zazenübung, als er den Morgenstern betrachtete. Sie alle haben den unbegrenzten, ewigen, unendlichen Weg gefunden und verstanden – den großmütigen Großen Weg, der weder leicht noch schwer ist.[2]

Doch Satori ist kein außergewöhnlicher Zustand des Bewusstseins. Sondern die Rückkehr in den normalen, ursprünglichen Geist. Wir werden ruhig und finden Frieden.


Vers 46

Gewinn und Verlust, richtig und falsch

Lass doch ab davon.

Vers 48

Folgt dein Geist nicht dem Unterscheiden,

Werden alle Daseinsformen des Kosmos eins.

Vers 51

Die Ursachen erlöschen,

Und es bleibt nichts mehr zu vergleichen.

Sōsan spricht vom Satori-Bewusstsein, dem Geist der Einheit, der nicht mehr vergleicht, misst, bewertet, beurteilt, zählt.

Taisen Deshimaru schreibt:

Wenn unser Gehirn wahrhaftig und vollständig zum ursprünglichen Geist zurückgekehrt, ist dies der normale Zustand, das Gleichgewicht und die völlige Übereinstimmung.[3]

Der Weg des Zen – wie auch jeder andere spirituelle Weg – ist langwierig und uns begegnen viele Schwierigkeiten. Niemand hat es leicht. Doch wer dranbleibt, wer Gott beharrlich sucht, der wird von ihm belohnt werden.


Vers 61

Willst du das Eine erklären,

So sprich von Nicht-Zwei.

Vers 62

Als Nicht-Zwei

Umfasst es alle Dinge

Und duldet alle Widersprüche

Wie trübes Wasser in einem Glas klärt sich unser Geist. Wie oft schon hast du gedacht: „Jetzt geht es nicht mehr weiter. Ich bleibe liegen, jetzt hat mich meine Angst besiegt. Ich ertrage meine Gedanken und Gefühle nicht mehr.“ Doch immer wieder hast du dich erholt und hast es geschafft.

Vertraue darauf, dass auch das Satori-Bewusstsein, das „Nicht-Zwei“ ist, immer wieder durchscheinen wird. Der Himmel klärt sich von Wolken und die Sonne erstrahlt. So verschwinden auch herausfordernde Gedanken und Gefühle, mit der Zeit. Es braucht beim Beten wie bei der Meditation lediglich etwas Ausdauer und Geduld.


Aus christlicher Sicht

Der Weg des Zen geht tief. Er verändert die eigene Psyche fundamental zum Positiven. Die alten Meister zeigen das: Sie waren mental ausgeglichene, aufmüpfige und wache Freigeister, die sich nicht haben unterkriegen lassen. Das beschreiben die überlieferten Geschichten und Texte. Auch ich möchte so sein! Im Sturm gelassen bleiben und vielleicht noch einen frechen Spruch auf den Lippen.

Ein liebender Vater

Wenn wir Zazen üben, können wir auf unserem spirituellen Weg definitiv vorankommen. Neben der knallharten Disziplin und Radikalität, die Zen fordert, dürfen wir uns als Christen aber von Gott, unserem Vater geliebt wissen. Ich muss nicht alle Gedanken und Gefühle loslassen. Und immer weiter nach Satori streben. Denn Gott schenkt sich uns, in der Gnade. Ich bin ein Beschenkter, nicht einer, der krampfhaft alles selbst verwirklichen muss.

Zen hat oft eine unbarmherzige Sprache, das muss die Leserin, der Leser berücksichtigen. Zen führt uns aus unserer Komfortzone, denn unsere Gedanken und Vorstellungen sind hartnäckig in unserem alltäglichen Leben fest verwurzelt. Und da braucht es eine radikale Sprache, die aus dem Dämmerschlaf aufweckt.

Die Gegenwart Gottes suchen

Auch wenn ich persönlich meditiere und Zazen praktiziere, strebe ich noch immer nach der Gegenwart Gottes. Also nach dem Gefühl einer göttlichen, personalen Präsenz. Das gebe ich nicht auf, nur weil ich den Zen-Weg gehe. Zazen aber – das kann ich nicht bestreiten – hat eine absolut geniale Wirkung auf die eigene Psyche: Es beruhigt das Gemüt, und wer lange still und unbeweglich sitzen kann, der spürt eine unbeschreibliche Kraft. Nutzen wir Zen doch auf unserem Weg zu Gott und werden stabile, unerschütterliche Menschen, die nicht so leicht „umfallen“ – so wie die alten Meister.

Denn wer loslassen kann, hat zwei Hände frei, die von Gott gefüllt werden. Das lernen wir beim Zen.

Die Kiefern am Rande des Meeres

Zum Abschluss – wie kann es besser sein – ein Gedicht von Meister Daichi. Denn Zen ist neben all seiner Radikalität sehr poetisch und hat viele Dichter und Autoren hervorgebracht.

Die Kiefern am Rande des Meeres

Sie verwerfen ihren Körper

Und beugen sich über den Abgrund.

Der Wind krümmt sie

Und der Regen wäscht sie

Durch Tausende von Jahren.

Die Rinde fällt ab

Und es bleibt nur die Essenz.

Doch selbst wenn man sie mit dem Schwert

Oder der Axt spaltet,

Kann man ihre Essenz nicht finden.

 

Quellen:

[1] Deshimaru, Taisen/Kanchi Sosan: Shinjinmei: Verse über den Glaubensgeist. Ein Zentext von Meister Sosan., Kristkeitz Verlag, 01.01.1979, S. 25.

[2] Deshimaru/Sosan, 1979, S. 119.

[3] Ebd., 203.

Literaturverzeichnis:

Deshimaru, Taisen/Kanchi Sosan: Shinjinmei: Verse über den Glaubensgeist. Ein Zentext von Meister Sosan., Kristkeitz Verlag, 01.01.1979.